Zweifel
Die Frau
fiel ihr nicht zum ersten Mal auf. Wie schon bei den vorangegangenen Begegnungen
fragte Monika sich auch jetzt wieder, was sie hier tat. Sie hielt die Fremde
nicht für eine Türkin, trotz übergroßem Kopftuch, bodenlangem Rock und wollenem
Schultertuch. Vielleicht war es eine Frau aus dem Asylantenheim.
Eigenartig war es dennoch, eine Muslimin am frühen Vormittag
spazieren gehen zu sehen, alleine, in dieser Gegend, und das mit auffälliger
Regelmäßigkeit. Heute allerdings war sie nicht allein. Ein Mann war bei ihr,
groß, dunkel, Hakennase und Schnauzbart. Also doch Türken?
Aber was wusste sie, Monika, schon über die Unterschiede im
Aussehen von Albanern, Bulgaren, Rumänen, Türken, - um nur einige zu nennen?
Monika erwiderte den schüchternen Gruß der Frau – ihr
Begleiter fand es wohl unter seiner Würde, zu grüßen – und lief weiter.
‚Seltsam’, dachte sie noch. ‚So nahe bei den Häusern ist sie mir bisher noch
nicht begegnet.’
Am darauf folgenden Tag fiel ihr erst nachdem sie ihre
Jogging-Runde vollendet hatte, auf, dass die fremde Frau nirgendwo zu sehen
gewesen war. Na ja, - sie hatte ja auch nicht direkt Ausschau nach ihr gehalten.
Monika musste über sich selbst schmunzeln. Es schien fast so, als vermisse sie
die Begegnung. Immerhin war sie schon einmal drauf und dran gewesen, die Fremde
anzusprechen. Es wäre ja möglich, dass die Frau einem Kontakt mit einer
Einheimischen nicht abgeneigt war. Und Monika hielt sich für einen
aufgeschlossenen Menschen.
Monika bereitete das Abendessen zu. Auf einmal erhöhte Helmut
die Lautstärke des Fernsehers. Monika wunderte sich darüber, konnte jedoch
nichts von dem Gesagten verstehen, weil das Fett in der Pfanne zischte. „Die
Kleine von den Brandners wird vermisst.“,berichtete ihr Mann beim Essen. „Es
wurde gerade in den Nachrichten gemeldet.“ „Vermisst? Andrea?“ Monikas Hand mit
dem Schöpflöffel hielt mitten in der Bewegung inne. „Seit wann denn?“ „Seit
gestern Nachmittag. Da war sie bei einer Schulfreundin. Nachdem sie von dort
weggegangen ist, hat niemand sie mehr gesehen.“
„Mein Gott!“ In Monikas aufgerissenen Augen zeigte sich tiefe
Betroffenheit. Sie und Helmut hatten auch eine Tochter, elf Jahre alt, knapp
zwei Jahre älter als das Mädchen der Familie Brandner. Eine Neunjährige, seit
über vierundzwanzig Stunden abgängig ... Monika wagte nicht daran zu denken, wie
sie sich an Luise Brandners Stelle fühlen würde. Wahrscheinlich wäre sie kurz
vor dem Durchdrehen.
Sie schlief schlecht in dieser Nacht, wachte mehrmals auf, und
kurz vor dem Morgengrauen tappte sie mit wild pochendem Herzen und schwitzend
barfuss im Dunkeln zum Zimmer ihrer Tochter, um sich davon zu überzeugen, dass
es sich bei dem, was sie soeben hatte aufschrecken lassen, tatsächlich nur um
einen Traum handelte.Am Morgen brachte Monika Doris mit dem Auto zur Schule,
faselte dabei etwas von einem Arzttermin, dass sie also ohnehin ins Stadtzentrum
müsste. Wieder daheim, holte sie die Tageszeitung aus der Box. Auf dem Weg
zurück ins Haus traf sie mit ihrem Nachbarn zusammen.
Herr Weber bemerkte, wie sie die Schlagzeilen der ersten Seite
überflog und meinte: „Schreckliche Sache, das mit der kleinen Brandner, nicht
wahr? Man hat sie noch nicht gefunden, oder?“ „Anscheinend nicht.“ Auf der
Retourfahrt von der Schule hatte sie extra das Radio auf den Lokalsender
eingestellt.
Herr Weber baute sich vor ihr auf, um sie am Weitergehen zu
hindern. „Ich sage Ihnen was: Bei dem Gesindel, das sich neuerdings hier
herumtreibt, wundert mich gar nichts mehr. Alles nichtsnutzige Türken und
Asylanten. Haben nichts anderes zu tun, als dem Herrgott den Tag zu stehlen.“
„Aber man weiß doch noch nichts ...“
„Ach was!“ Herr Weber wischte Monikas Einwand beiseite und
zerschnitt mit den Armen wild fuchtelnd die Luft. „Dieses Pack lungert überall
herum und hält Ausschau, wo sich eine günstige Gelegenheit zum Klauen ergeben
könnte.“ Ach, du lieber Himmel! Monika seufzte innerlich und versuchte ihre
Aversion zu verbergen. Ihr Nachbar war ihr noch nie sonderlich sympathisch
gewesen. In der Vergangenheit hatte er sich häufig als launisch und
kinderfeindlich erwiesen. Mit seiner Meinung und unerwünschten Ratschlägen hielt
er nie hinter dem Berg; sei es, was Kindererziehung – obwohl selbst
unverheiratet und kinderlos -, nachbarschaftliches Miteinander, die Benützung
des Spiel- und Sportplatzes, und derlei mehr, anbelangte. Kommunalpolitik, wie
Bundespolitik kamen auch nicht zu kurz, und eines seiner Lieblingsthemen betraf
die Ausländerproblematik. Wenn er da erst mal anfing ...
„So schlimm ist es auch wieder nicht.“, wagte Monika dagegenzusprechen.
„Nicht so schlimm?!?“ Aufgebracht funkelte er sie an. „Wo man
auch hingeht, - überall laufen einem diese undurchschaubaren Typen, diese
dunkelhäutigen, mit ihren zum Fürchten finsteren Mienen, und diese
Kopftuch-Weiber über den Weg. Man kommt sich im eigenen Land fast wie ein ...“
„Ich muss weiter, ich erwarte einen Anruf.“ Monika schob sich an ihrem Nachbarn
vorbei und hatte es eilig von ihm fortzukommen.
„Sie werden sehen: Die Kleine lebt nicht mehr. Und umgebracht
hat sie einer von diesem Gesindel! Bevor diese Asylanten da waren, war hier
alles ruhig und friedlich. Da gab es keine Einbrüche und Diebstähle und schon
gar keine Entführungen!“, schrie er ihr nach, wobei er es offenbar darauf
anlegte, die halbe Nachbarschaft von seiner Gesinnung in Kenntnis zu setzen.
Monika hastete ins Haus und verriegelte die Tür. Sie brauchte
einen Moment um sich von dem bösartigen Gezeter zu erholen. Wie konnte man bloß
so vorurteilsbeladen und verbittert sein? Bei einer Tasse Kaffee blätterte sie
die Zeitung durch. Nachdem sie den Artikel über das Verschwinden der kleinen
Andrea Brandner gelesen hatte, glitt ihr Blick zum Fenster. Gedankenverloren
starrte sie hinaus. Herr Weber war noch dort draußen und hatte ein anderes
Opfer, dem er seine Verdächtigungen unterbreiten konnte, gefunden. Die
Bevölkerung wurde zur Mithilfe aufgerufen. Personen, denen etwas aufgefallen
war, sollten sich mit der Polizei in Verbindung setzen. Natürlich fehlte auch
der Hinweis, dass jede noch so unbedeutend scheinende Beobachtung unter
Umständen von Wichtigkeit sein könnte, nicht.
Völlig unvorbereitet und unbeabsichtigt erstand vor Monikas
innerem Auge das Bild der kopftuchtragenden Spaziergängerin, samt ihrer
männlichen Begleitung. Es dauerte etwas, bis sie begriff, was ihr
Unterbewusstsein ihr suggerieren wollte. Sie saß wie erstarrt, kämpfte ihren
Aufruhr nieder und schüttelte ärgerlich den Kopf.
Großer Gott, jetzt hatte ihr mürrischer Nachbar sie mit seiner
Paranoia schon beinahe angesteckt! Eine muslimisch aussehende Frau, die täglich
allein einen Spaziergang unternahm, war doch wohl nicht wirklich so was
Außergewöhnliches. Oder doch? Und, dass sie beim letzten Mal, als sie sie
gesehen hatte, vor zwei Tagen, in Beleitung gewesen war, - was sollte daran
verdächtig sein? Da waren ihre eigenen Gedankengänge schon eher verdächtig.
Stets hatte sie sich bemüht, tolerant allem und jedem gegenüber zu sein, ohne
Vorurteile das Anderssein Anderer zu akzeptieren. Und nun das!
Monika schüttelte nochmals den Kopf über sich selbst,
energischer diesmal, und erhob sich vom Küchentisch. Es wartete eine Menge
Arbeit auf sie.
Beim Blumen umtopfen, Salatpflanzen einsetzen und wässern
verdrängte sie jeden Gedanken an ihren Nachbarn und das vermisste Kind. Als sie
endlich auf die Uhr sah, war es höchste Zeit, mit dem Kochen zu beginnen. Nervös
biss sie sich auf die Lippen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihre Tochter von
der Schule abzuholen. Solange Andrea vermisst wurde ... Schließlich konnte man
nie wissen ...
Als Monika tags darauf zum Joggen das Haus verließ, standen
zwei Frauen aus der Nachbarschaft vor ihrem Gartenzaun und unterhielten sich
aufgeregt. Die Frauen bemerkten sie, unterbrachen ihr Gespräch und schauten ihr
entgegen. Ahnungsvoll setzte Monika sich in Bewegung.
„Haben Sie es auch schon gehört?“, fragte die eine der Frauen,
als Monika herangekommen war. „Was denn?“ Irgendwie hatte sie das Gefühl, sie
wollte das, was die Frau zu berichten wusste, nicht hören. „Die Andrea ist
gefunden worden.“ „Und ... ? Ist sie wieder daheim?“ Monika fühlte sich leicht
benommen.
Beide Frauen schüttelten gleichzeitig ihre Köpfe, und in ihren
Augen spiegelte sich das Entsetzen. „Mein Gott!“ Unwillkürlich suchte Monika
Halt am Zaun. „Was ist denn passiert? ... Weiß man etwas ... Genaueres?“
Diesmal ein bedeutungsvolles Nicken, und die eine der Frauen
fügte hinzu: „Einer aus dem Bekanntenkreis der Brandners ist verhaftet worden.
Er soll schon gestanden haben.“
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