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Frei sein
Der Vogel saß auf der Balkonbrüstung und es sah so aus, als
beäuge er das Mädchen höchst interessiert.
Unwillkürlich fassten die Hände des Mädchens nach den Armlehnen des Stuhles, und
es richtete seinen Oberkörper gerade.
Die Äuglein des Sperlings schimmerten wie winzige Tropfen schwarzen Lacks, als
er das Köpfchen anmutig hin und her bewegte. Schließlich hüpfte er auf den
Balkonboden hinab, pickte etwas auf und flatterte zurück auf das Geländer. Er
trippelte ein paar Zentimeter seitwärts, wandte sich um, dem Mädchen zu, und
legte das Köpfchen schief.
Ein aufgewecktes Kerlchen! ... Oder war es eine Vogeldame?
‚Nicht umsonst heißt es, - frech wie ein Spatz.’ Ein zärtliches Lächeln erhellte
das Gesicht des Mädchens. Tief in sich spürte es ein eigenartiges Ziehen, dem
Gefühl der Sehnsucht nicht unähnlich.
Es versuchte, den Vogel durch pure Willenskraft auf den Platz dort draußen auf
dem Holzumlauf zu bannen. Eine Weile schien das zu funktionieren.
Das Mädchen neigte sich nach vorne, hob langsam die Hände und legte sie flach an
das Glas der Balkontür; - augenblicklich erhob sich der Vogel zur Flucht.
Enttäuscht sank es gegen die Rückenlehne und schloss die Augen.
Minuten verrannen.
Mit einem leisen Seufzen kehrte das Mädchen aus seinem Träumen zurück.
Der Vogel war wieder da. Trippelte auf der Balustrade herum und äugte ins
Zimmer.
War es Derselbe?
Das Mädchen zweifelte nicht.
Diesmal verharrte es unbeweglich.
Der Sperling spreizte einen Flügel, beugte das Köpfchen und zog putzend Federn
durch den Schnabel. Zufrieden mit dem Ergebnis, plusterte er sich auf, schielte
nach der Gestalt hinter der Scheibe, drehte sich um und schwang sich in die
Luft.
Am Morgen darauf saß das Mädchen wieder am selben Platz, wieder zur selben Zeit.
Der Vogel kam angeflogen, landete auf dem Geländer und lugte zu ihm herein. Dann
flatterte er auf den Boden nieder und pickte emsig von den Körnern und Krumen,
die es ihm hingestreut hatte.
Es wurde zum täglichen Ritual.
Von nun an erwachte das Mädchen jeden Morgen ohne Missmut. Mit Vorfreude machte
es sich bereit für den Ausflug zur Balkontüre.
Und mit jedem Tag, der verging, brach ein Stück mehr von der Kruste fort, die im
Laufe der Zeit um das Innerste des Mädchens gewachsen war.
Die Tage wurden wärmer.
Die Türe zum Balkon stand neuerdings offen.
Den Vogel störte das nicht.
Er holte sich sein Frühstück, hüpfte munter auf Boden oder Geländer herum und
betrachtete das Mädchen aus seinen schwarzen Knopfäuglein.
Beim gegenseitigen Beobachten sinnierte das Mädchen darüber nach, was in diesem
winzigen Gehirn vorgehen mochte. Sah der Sperling in ihm nur Jemanden, von dem
Futter zu erwarten war? Oder war da doch mehr? Kannten Vögel Gefühle wie
Zuneigung?
Oder gar Mitleid?!?
Das Mädchen schreckte hoch.
Und der Vogel stob davon.
‚Frei sein wie du, kleiner Spatz ...’, murmelte das Mädchen, ein leises Zittern
in der Stimme, und schaute ihm gedankenschwer nach.
Er ließ sich auf dem Ast eines in voller Blüte stehenden Kirschbaumes nieder,
tschilpte und putzte sich sein Gefieder.
Das Mädchen blieb, wo es war und hoffte, er käme noch einmal zurück.
Der Teppich aus Sonnenlicht schlich sich von dem Platz an der Balkontüre fort.
Da erst griff das Mädchen an die Räder des Rollstuhles und zog sich in das
Innere des Raumes zurück.
Tag für Tag und Stück für Stück lockte das Mädchen den Vogel näher heran. Bald
müsste es soweit sein. Bald würde er sich sein Frühstück direkt aus der Hand des
Mädchens holen.
Eines Morgens saß der Kater auf der Balkonbrüstung.
Sofort scheuchte das Mädchen ihn fort. Doch nun war ihm nicht mehr ganz wohl.
Als der gefiederte Freund eintraf, gelang es dem Mädchen nicht, ruhig zu sitzen,
um ihn anzulocken. Es rutschte im Stuhl herum und spähte immer wieder in alle
Richtungen.
Den Vogel verstörte das.
Zwei-, dreimal flatterte er nervös auf. Schließlich flog er endgültig davon.
Er kam wieder, jeden Morgen.
Noch tagelang war das Mädchen auf der Hut.
Dann, als seine Vorsicht nachzulassen begann, schoss der Kater an ihm vorbei,
hinaus auf den Balkon, landete mit einem geschmeidigen Sprung auf dem Geländer.
Doch der Sperling war fort. Entwischt im allerletzten Augenblick.
Das Mädchen hörte noch sein entrüstetes Tschilpen.
‚Nein’, dachte es traurig, denn es hatte soeben etwas begriffen: ‚Sogar für
einen Vogel gibt es uneingeschränktes Freisein nicht wirklich.’
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